Sonntag, 5. Februar 2012

Platons Höhlengleichnis

In seiner Politeia ('Der Staat') diskutiert der griechische Philosoph Platon (~427 bis ~347 v. Chr.) die Möglichkeit einer idealen Staatsordnung. Bei der Frage, ob und wie die Menschen gebildet werden können, verwendet Platon ein Gleichnis, das berühmte Höhlengleichnis. Es geht darum, ob und wie der Mensch die Wahrheit erkennen kann.
"Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte... von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt. ... (sie) sehen nur geradeaus vor sich hin... Von oben her aber aus der Ferne von rückwärts erscheint ihnen ein Feuerschein; zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, längs dessen eine niedrige Mauer errichtet ist... Längs dieser Mauer... tragen Menschen allerlei Gerätschaften vorbei... 
Können solche Gefangenen von sich selbst sowohl wie gegenseitig voneinander gesehen haben als die Schatten, die durch die Wirkung des Feuers auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle geworfen werden? Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände. 


Wenn einer von ihnen entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, ... nach dem Lichte emporzublicken... Und wenn man ihn nun zwänge, sein Licht auf das Licht selbst zu richten, so würden ihn doch seine Augen schmerzen... Wenn man ihn nun aber von da gewaltsam durch den... Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhete, als bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben?
Zuletzt dann würde er die Sonne, nicht etwa bloß Abspiegelungen derselben im Wasser ... in voller Wirklichkeit ... schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein... Wenn ein solcher wieder hinabstiege in die Höhle und dort wieder seinen alten Platz einnähme, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht werden in Finsternis. Und wenn er nun wieder... wetteifern müsste in der Deutung jener Schattenbilder, ... würde er sich da nicht lächerlich machen und würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran... und schon der bloße Versuch, nach oben zu gelangen, sei verwerflich?"
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Wer aber Hand anlegte“, heißt es bei Platon, „um sie zu befreien und hinaufzuführen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten.
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Platon beschreibt also die Vorstellung, dass in einer Höhle einige Personen in einer Weise gefesselt sind, dass sie ein Leben lang nur nach vorne an eine  Wand schauen können. 
Das, was sich als Schatten auf der Wand zeigt, halten sie für die (einzige) Realität. Sie haben keine Chance zu erkennen, dass Ausschnitt, von dem was wirklich ist, lediglich ihre auf subjektiver und selektiver Wahrnehmung beruhende Realität darstellt.


Würde einer von ihnen aus seinen Fesseln gelöst und aus der Höhle ans Licht geführt dann könnte er sich zwar einen Eindruck von der Wirklichkeit außerhalb der Höhle verschaffen.
Doch er würde so würde er größte Schwierigkeiten haben, seine alten Vorstellungen (die ihm bekannte und vertraute 'Realität') aufzugeben. Käme er dann mit seinen neuen Erkenntnissen zu seinen ehemaligen Kameraden zurück würde er ihnen wohl von dem wirklichen Leben berichten und sie auf ihre Fesselung aufmerksam zu machen. Doch sie würden sie ihn auslachen. Jeder Versuch, 'heilsamen Zwang' auszuüben und sie aus ihrer Begrenztheit zu befreien, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit Angst und Widerstände auslösen - bis hin zur Aggression.

Ich ziehe aus diesem Gleichnis für mich zwei Konsequenzen:
  • Das was ich gegenwärtig als meine Realität wahrnehme, ist nur ein Ausschnitt aus einer gigantischen Gesamtheit von Leben und Geschehen. Wenn es mir gelingt, dies zu erkennen, kann ich daraus die Chance entwickeln, meinen Horizont zu erweitern.
  • Zugleich gilt es, niemanden in meinem Umfeld mit dem von mir Erkannten (meiner persönlichen Realität) zu überfordern. Jedes Ich durchläuft eine eigene Entwicklung und sammelt dabei - früher oder später - eigene Erkenntnisse und Erfahrungen. Dabei kann der freiwillige Austausch von Information hilfreich sein, auch behutsame Denkanstöße sind erlaubt solange sie andere Personen nicht überfordern, doch den Weg muss jedes Ich für sich alleine gehen.-


Verantwortung für sich und für andere

Juliane Waack äußert sich in ihrer Zusammenfassung und Interpretation des Höhlengleichnisses in einer anderen Richtung:

"...Das Loslösen des einen Individuums von diesem Platz an der Wand erfolgt weder freiwillig, noch leichtfüßig, wie es oft in der Schulphilosophie verkauft wird. ... Damit wird die Erkenntnis, das Erlernen neuer Wahrheiten als schmerzlicher Prozess beschrieben, den wohl auch jeder so nachvollziehen kann, denn in den meisten Fällen sträubt man sich, seine gewohnten Meinungen für Neue aufzugeben, ja, so ein Wechsel kann auch emotional schwierig sein, so dass man oftmals uneinsichtig und starrköpfig reagiert (in der kognitiven Psychologie findet sich das in einer Liebe zur Gewohnheit wieder). Erst nach und nach erkennt das Individuum aus der Hölle die Welt um sich herum, die Augen müssen sich erst an die neuen Eindrücke und das Licht (das hier als Wahrheit interpretiert werden kann) gewöhnen, bevor es erkennt, dass die Schatten an der Wand nicht mehr als abstrakte Abbildungen der eigentlichen Dinge sind..."
Der Aufstieg aus der Höhle stehe für einen Erkenntnisprozess, doch verfolge das Gleichnis (geschrieben im Rahmen der Politeia und eingebettet in eine Serie von Gleichnissen, zu der u.a. das Sonnengleichnis und das Liniengleichnis zählen) einen weiteren Zweck:  
Platon vermittelt die Notwendigkeit, dass diese Erkenntnis für jeden zugänglich sein sollte. Die Aufgabe eines wirklich Gebildeten bestehe darin, wieder zurück ins Dunkel zu kehren, um den Anderen die Köpfe zu drehen und ihnen das Licht aufzuzwingen. 
Bildung dient für Platon nicht allein der eigenen geistigen Entwicklung - sondern sie vielmehr besteht darin, dass man seine Erkenntnisse auch den anderen zugänglich macht.
"... alle Denker, die oben am Sonnenlicht bleiben und sich nicht zurück wenden, sind einseitig und würden auch den Prozess der Erkenntnis damit zum Erliegen bringen, denn wenn wir an den Anfang des Höhlengleichnisses denken, so müssen wir einen Unbekannten erkennen, der diesem Individuum den Kopf gedreht hat und es an das Licht geführt hat. Um die Bildung zu ermöglichen, braucht es also die gegenseitige Motivation, braucht es den ständigen Prozess.
Platons Gleichnis sei also zweigeteilt: Es beschreibe den Prozess, wie die Wahrheit erkannt wird, und die Notwendigkeit, diese Wahrheit für alle zugänglich zu machen...


Bildung, Wahrheit und Erkenntnis jedermann zugänglich zu machen, klingt gut und ist bis heute leider alles andere als selbst verständlich. Doch haben wir wirklich das Recht (oder sogar die moralische Verantwortung), anderen unsere Version der Wahrheit aufzuzwingen?
Hier sollte m.E. die konkrete, einzelne Situation betrachtet werden - ein Beispiel:
Bis heute glauben Millionen Menschen an eine biblische Schöpfungslehre, welche (jedenfalls bei wortgetreuer Interpretation) in krassem Gegensatz zum  Standard der Naturwissenschaften steht. Sicherlich kann auch nachgewiesen werden, dass bibeltreue Christen ihre Gewissheit aus ihrer fokussierten Wahrnehmung beziehen (gewissermaßen nur auf eine Wand schauen). Die meisten von ihnen sind in ihrer Glaubenswelt zuversichtlicher als viele der 'Naturalisten' - besteht hier die Notwendigkeit, ihnen gewaltsam die freiwillig angelegte Augenbinde vom Gesicht zu reißen? 
Ich wage zu bezweifeln, dass den so 'Bekehrten' dadurch pauschal ein höheres Maß an geistiger Lebensqualität beschert wird. Anderseits erinnere ich mich lebhaft an meine eigenen kindlichen Vorstellungen von Hölle und Verdammnis - und meine Dankbarkeit, als Heranwachsender eine andere Sichtweise vermittelt zu erhalten. Doch da war kein Zwang...


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