Mittwoch, 29. August 2012

Warum ist der Mensch so wie er ist?

Ob man tief gläubig oder aus tiefstem Herzen von der Nichtexistenz des Göttlichen überzeugt ist – diese Frage hat sich vermutlich jeder schon mal gestellt. Meist in einem unangenehmen Augenblick voller Unverständnis über menschliches Handeln oder im Rückblick auf eigenes, zweifelhaftes Verhalten.
Die Geschichte der Menschheit liest sich im wesentlichen als Aneinanderreihung von Schlechtigkeiten – im Großen sind es Kriege und Genozide, auf Individuen (sich selbst oder andere) bezogen begegnet man Ignoranz, Egoismus und nicht selten skrupelloser Rücksichtslosigkeit. Schaut man genauer hin, entdeckt man auch die Ausnahmen: Gemeinschaften und Einzelpersonen, die Lichtblicke voller Güte, Hingebung und echter Nächstenliebe vermitteln, welche nicht den eigenen Vorteil zum Ziel hat.
Technologische Errungenschaften tragen fast immer den Keim missbräuchlicher Anwendung in sich.


Zu unterschiedlichen Zeiten, abhängig von der persönlichen Stimmung, gelangt man zu einem unterschiedlichen Fazit – mal überwiegen die helleren und mal die dunkleren Grautöne. In meiner eigenen Wahrnehmung überwiegt das Schlechte, wobei ich mich hüte, das Gute in fast jedem Menschen zu übersehen.
Doch ist es nicht so – wenn die meisten von uns ehrlich zu selbst sind – dass fast immer die Fokussierung auf das Wohlergehen der eigenen Person und des unmittelbaren Umfeldes besteht? Das Ich, die eigene Familie, die eigene Firma, die eigene Berufsgruppe…bis hin zum eigenen Land und dem Kontinent, auf dem man lebt.


'Zuviel Altruismus lenkt uns vom Wesentlichen ab' ...so wurde es fast allen Menschen anerzogen, denen ich begegne (mich selbst auf keinen Fall ausnehmend). “Das Leid der ganzen Welt könnten wir niemals lindern, selbst wenn wir dies wollten und uns ernsthaft dafür einsetzten.
Statt dessen leben wir unser eigenes Leben nach dem St.-Florians-Prinzip und hoffen, dass es uns nicht zu schlimm erwischt.

Diese Tendenz wird um so dominanter, je mehr der einzelnen in der tarnenden Masse untergeht – bei 82 Millionen Deutschen oder erst recht 250 Millionen Europäern ist die persönliche Verantwortung nicht besonders hoch, relativ betrachtet.
Besonders unverständlich ist dabei schädliches Handeln bzw. Nichthandeln wider besseres Wissen ...sodass Goethes Verse in unangenehmer Weise zutreffen:

“Ein (guter) Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.”
Tatsächlich braucht sich niemand für das unmenschliche, unethische Verhaltensprofil zu kasteien, welches der Mensch als dominierende Spezies auf diesem Planeten abgibt. Die Ursache dieses Verhaltens liegt im Dunkel einer Evolutionsgeschichte, an deren Ende wir zwar ein Selbstbewusstsein entwickelten, aber die steinzeitlichen Reaktionsmechanismen niemals ganz ablegen konnten.
Irgendwo zwischen halbbewussten Trieben und erahnten Instinkten auf der einen Seite und den verinnerlichten Normen, Traditionen und Erziehungsmustern auf der anderen versucht ein rationales Ich sich an der übermächtigen Aufgabe, zwischen beiden Einflussgrößen zu vermitteln und dabei so etwas wie eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
Wo soll da noch Raum für Rücksichtnahme und Altruismus aus eigener, echter Motivation entstehen?


Suche nach Antworten

Kant versuchte, die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens und des resultierenden Handelns zu ergründen. Er formulierte seinen Kategorischen Imperativ als ethisches Konzept, wo zuvor die Theologen moralisches Verhalten aus der Bibel begründet und definiert hatten.
Eine Frage blieb jedoch unbeantwortet: Warum sind wir so …gut / schlecht / gleichgültig / liebevoll /ignorant / aufopfernd ...meist von allem ein wenig und von der Ignoranz bzw. dem Verdrängen des Beängstigenden ein wenig mehr?
"Warum ist der Mensch sich selbst ein Rätsel? Weil er, im Unterschied zu den Tieren, nie in sich ruht. Er existiert in multipler Polarität - von Körper und Geist, Leib und Seele, Sinnlichkeit und Vernunft, Gefühl und Verstand, Innerlichkeit und Außenwelt...
Er ist ein ex-zentrisches Wesen, das, seiner Natur und Geschichte verhaftet, gleichwohl stets über sie hinaus strebt. Er kann, er muss sich und die Welt fortwährend neu gestalten, kann solches Wagnis jedoch nur bewältigen, wenn er zwischen seinen Gestaltungsfreiheiten und den Notwendigkeiten seiner leiblich-psychischen Verfassung ein Gleichgewicht findet." (Christoph Dejung: Helmuth Plessner, WELT online, 2004)
Christliche Theologen würden vielleicht antworten, dass die Menschen so sind, weil Gott sie so geschaffen hat. Wer aber den vermeintlich ‘freien Willen’ hochhält, wird kaum die durch implizierte Kausalität (Ursache und Wirkung) übersehen, die das Gute und das Schlechte in dieser auf einer bestimmten Ebene vom Menschen bestimmten Welt klar auf diesen Menschen als Urheber der Gründe zurückführt. 

Meist sehe ich es so: die Rahmenbedingungen – Universum, Natur, Naturgesetze, Merkmale und Bedingungen von Leben – 
wurden durch einen Schöpfer/eine willentlich-schöpferische Intelligenz vorgegeben ; doch innerhalb dieses Rahmen besitzen wir einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Daran ändern auch das Zusammenwirken von ES und Über-Ich nichts.
So bleibt genug Raum für die Warum sind wir so? –Fragestellungen, ohne alle Kausalität auf Gott oder etwas nie gesehenes Phänomen namens Zufall projizieren zu können.
Warum fallen unsere Gruppen- und Individual-Entscheidungen so selbstzerstörerisch, manchmal brutal und bisweilen schlichtweg dumm oder perfide aus? Weshalb gebrauchen wir die uns gegebene Freiheit so und nicht anders?
  • Individualpädagogische Analysen helfen da kaum weiter. Was nützt es auch, wenn ich weiß, aus welcher Motivation Breivik 69 Menschen ermordet hat und ein Jahr danach immer noch von sich und seinem Tun überzeugt ist? Nun ja, Kriminalpsychologen und Politiker mögen in Richtung Prophylaxe denken, was angesichts zunehmender Amokläufe angebracht sein mag.
Doch Serien-/Massenmörder besitzen ebenso wenig repräsentative (=verallgemeinerbare) Charaktermerkmale wie jene, die für weit mehr Todesopfer verantwortlich sind und den Schein von Legalität und Legitimität zu wahren wissen.
  • Anthropologen sind da schon einen Schritt weiter: Ausgehend von Zitaten wie dem von Ludwig Feuerbach („Der Mensch ist, was er isst.“) entwickeln sie aus Wissensgeschichte und Evolution ein Bild, wie das Zusammenspiel von Natur und Kultur die menschliche Identität entstehen lässt, etwa weil beide Körper und Geist durch Nahrung beeinflussen. [Vergl. ‘Der Mensch ist, was er isst.’]
    Schaut man sich deren Erkenntnisse genauer an, stellt man fest, sie haben die Antwort auf eine andere Frage gesucht – nämlich: ‘Was ist der Mensch?’ 
Das Warum bleibt dabei offen, zumindest auf der abstrakten Ebene des Menschen schlechthin. Vielleicht ist es ja klüger, diese Frage erst gar nicht ernsthaft zu stellen, weil sie sich ohnehin nicht beantworten lässt – jedenfalls nicht im Sinne einer allgemein gültigen Wahrheit?
Wer Kinder oder kleine Neffen und Nichten hat, wird sehr wohl wissen, dass eine Antwort auf eine Warum-Frage eh’ einen Aha-Effekt und prompt eine Reihe weiterer Fragen dieser Art nach sich zieht…

Homo ludens – eine Spezies aus lauter Spielernaturen?

Der homo ludens (lateinisch, ‘der spielende Mensch’) ist ein Erklärungsmodell des lebenden Menschen, wonach dieser seine Fähigkeiten im Besonderen über das Spiel entwickelt. Er entdecke im Spiel seine individuellen Eigenschaften und entwickele sich dadurch anhand der dabei gemachten Erfahrungen selbst zu dem, was er ist. Spielen unterstellt Handlungsfreiheit gleichgesetzt und setzt eigenes Denken voraus
Nach Johan Huizinga entwickelten sich unsere kulturellen Systeme wie Politik, Wissenschaft, Religion, etc. im Wege der Selbstorganisation aus ursprünglich spielerischen Verhaltensweisen, die nach und nach ritualisiert und institutionell verfestigt wurden…vergl. Wikipedia.
Besonders reizvoll war es dann wohl einige Multiplikatoren und Eliten, von Zeit zu Zeit einzelne ‘Spielregeln’ zu verändern…
Diesen Gedanken weiterspinnend frage ich mich: Sind wir – sowohl als Individuen als auch in unserer Gesamtheit – allesamt Spieler bzw. Zockernaturen, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung und Vorliebe für verschiedene Spiele und unterschiedliche Einsätze?
  • Im globalen Kontext lassen wir es drauf ankommen – Klimaentwicklung, Weltkriegsgefahr, Ressourcenschwund usw. Setzen wir darauf, dass es uns alle – oder uns selbst – nicht zu schlimm trifft? Oder dass unser rechtzeitiges Ableben uns davor bewahre, die schlimmsten Entwicklungen noch mit ansehen bzw. selbst erfahren zu müssen?
  • Im persönlichen Leben vergeht nicht ein Tag, ohne dass wir eine Fülle von Risikoabwägungen vornehmen und ‘kalkulierte Risiken’ eingehen.
  • Geht das ‘Spiel’ religiöser Menschen davon aus, der liebe Gott werde es schon richten – und man selbst werde gerade noch bei den Guten im Töpfchen landen?
Auch wenn Friedrich Nietzsche wohl zutreffend erkannt hat, dass von allen menschlichen Beweggründen Eigennutz und Angst wohl am schwersten wiegen und dass “Religion das einzelne Gemüt in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens” befriedigt – die kollektive Spielernatur der Menschen könnte als ergänzendes Erklärungsmodell tauglich sein.
‘Eigentlich’ kann dies nicht zutreffen, möchte man meinen – denn Leben als Spiel im Spiel (…) aufzufassen, wäre doch im hohen Maße un-vernünftig. Wie dem auch sei, die täglich zu beobachtende Realität scheint in diese Richtung zu weisen.
Wo aber liegt die Grenze zwischen kreativem Spiel und vermessenem Zockertum? Pessimisten sind überzeugt, dass wir dies schneller herausfinden werden, als den meisten von uns lieb sein dürfte…

Siehe auch

Samstag, 25. August 2012

Unsterblichkeit der Seele? Platons Phaidon

Ein Dialog über das Wesen der Seele und die Ewigkeit

Auf ein einzelnes der vielen philosophischen oder theologischen Konzepte von Unsterblichkeit und ewiger Existenz der (menschlichen) Seele vermag ich mich nicht festzulegen – an der Hoffnung auf dieses Weiterexistieren der Seele halte ich dennoch unbedingt fest.
Mein persönlicher Grund für dieses Hoffen ist fast banal: Die Vorstellung, für das Selbst – zu dem insbesondere Bewusstsein und Erinnerung zählen – gebe es kein 'Danach', impliziert für mich zu einer völligen Sinn- und Ziellosigkeit des menschlichen Daseins. Anders ausgedrückt: In der Einseitigkeit dessen, was die Mehrzahl der Menschen in ein paar Jahrzehnten irdischen Daseins veranstaltet, entdecke ich plumpen Selbstzweck, naturalistisches Sich-Reproduzieren, maximierte Konsum- und Sinnlichkeitserfahrung sowie die selbstgefälligen Erfolgserlebnisse einzelner Alphamännlein und –weiblein, aber ganz sicher weder Sinngebung noch Vollendung.

Nun hat es manchmal den Anschein, als sei die Frage nach dem Tod, der Beschaffenheit des Jenseits und 'was dann aus uns wird', nahezu ausschließlich die Domäne der um die "Wahrheit" konkurrierenden Religionen. Diese (vor allem die drei großen monotheistischen Religionen) haben entscheidende Nachteile:

  • ein kompetitives Entweder-/Oder-Denken:
    Religionen versuchen uns mit mehr oder weniger drastischen Drohgebärden einzuschärfen, an ihre jeweilige Version vom Weiterleben der Seele seien Bedingungen geknüpft …die natürlich nicht von den den Religionsstiftern oder ihnen nachfolgenden Klerikern, sondern unmittelbar von Gott stammen sollen.
  • ein Exklusivitätsanspruch, demzufolge die große Mehrzahl aller Menschen (nämlich alle jeweils "Ungläubigen") entweder im dunklen Nichts der Vergessenheit oder in niemals endenden Höllenqualen endet.
Als wirklich trostbringend empfindet dies kaum jemand. (Zumindest habe ich im christlichen Umfeld noch keine einzige Beerdigung erlebt, die mit gelassener Leichtigkeit den Übergang des Verstorbenen in eine bessere Welt begangen hätte.) All dies ist Anlass genug, auch die 'unabhängigen' Konzepte seelischer Unsterblichkeit zu suchen – ohne damit die religiös motivierten Eschatologien und Heilslehren per se zu verwerfen.

Platons Phaidon – der Dialog des Sokrates über Wesen und Unsterblichkeit der Seele


Der Gedanke, die Seele sei unsterblich, ist kein exklusives Produkt im Portfolio der maßgeblichen, oft monokausal auf einen übernatürlichen Schöpfer ausgerichteten Religionen - wir treffen ihn schon bei den frühen Philosophen an:


Der Phaidon ist ein zwischen 385 und 378 v. Chr. entstandener Dialog des griechischen Philosophen Platon. Dieser schildert im Phaidon das letzte Zusammentreffen des Sokrates mit seinen Freunden vor dessen bevorstehender Hinrichtung. Gegen Sokrates war das Todesurteil verhängt worden, weil ihm ein verderblicher Einfluss auf die Jugend sowie die Missachtung der damaligen Götter zur Last gelegt worden war.
Auf die Bitte des Pythagoreers Echekrates berichtet Phaidon von den letzten Stunden des Sokrates und von dem letzten Gespräch: der Argumentation vom Fortleben der Seele. Phaidon selbst gründete nach Sokrates' Tod eine Philosophenschule in Elis.
Im Mittelpunkt des Phaidon steht auch die Ideenlehre (s.u.) des Platon.
  • Den ins Deutsche übersetzten Text des Phaidon findet man beispielsweise hier (PDF) in einer überarbeiteten (leicht zu lesenden) Fassung oder auf Zeno.org. Zum Erstaunen seiner Freunde habe Sokrates im Angesicht des bevorstehenden Todes tapfer und "ganz glücklich" gewirkt. So habe Phaidon zwar Trauer empfunden, aber auch die Zuversicht, sein Freund werde begnadet und mit "einzigartigem Wohlbefinden in die Unterwelt eingehen". 


Tod und Reinigung der Seele

Sokrates erklärt, der Tod für den Philosophen keinen Schrecken; er selbst gehe dem "nicht unwillig" entgegen. Jede Form von Suizid lehnt er indessen aufgrund eines aus göttlichen Geheimlehren ersichtlichen Verbotes ab: die Menschheit sei als "eine der Herden der Götter" zu betrachten und jeder einzelne in einer Festung (dem Körper) gefangen, aus der er sich nicht selbst befreien dürfe. Andernfalls drohe womöglich eine Bestrafung.
Auch Sokrates betrachtet die Menschen als Eigentum von weit über ihm stehenden, göttlichen Wesen. Obgleich dem Gedanke, mir nicht selbst zu gehören, etwas Beängstigendes (auf Gedeih und Verderb meinem 'Eigentümer' ausgeliefert zu sein) anhaftet – hier geht es vor allem darum, dass der Hüter der Herde am besten wisse, was gut für sie ist.
Dennoch, der Tod als solcher sei erstrebenswert und Todessehnsucht daher verständlich, sogar begrüßenswert. Widerspruch und Unverständnis seitens Kebes und Simmias bewegen Sokrates dazu, seine Auffassung zu erläutern.
„… wenn ich nicht glaubte, zuerst zu andern Göttern zu kommen, die auch weise und gut sind, und dann auch zu verstorbenen Menschen, welche besser sind als die hiesigen, so täte ich vielleicht unrecht, nicht unwillig zu sein über den Tod. Nun aber wisset nur, dass ich zu wackeren Männern zu kommen hoffe.“
Der Tod verschaffe der Seele die lange gesuchte Unabhängigkeit, denn bei seiner Suche nach tiefen Erkenntnissen behindere der Körper den Philosophen: Sinneseindrücke vermitteln keine objektiven, sicheren Informationen und können den Verstand vielmehr täuschen. Ebenso sind körperliche Bedürfnisse und Triebe störend auf dem Weg zur wahren Erkenntnis.
Mehr noch: der Körper sei eine regelrechte Last; der Philosophen solle ihm nur das Nötigste zugestehen.

“Selbst im Krieg, beim Aufruhr und in Kämpfen, haben wir es nur mit dem Körper und seinen Begierden zu tun. Denn in allen Kämpfen geht es um den Besitz von Geld und Gut, die wir für unser leibliches Wohl haben wollen.
Weil uns diese Dinge so vereinnahmen, fehlt es uns an Muße, Philosophie zu betreiben.
Nur Vernunft lässt das Erkennen und Verstehen der Wirklichkeit zu - während Furcht, Liebe, Angst und alle übrigen Empfindungen dieser Erkenntnisgewinnung im Weg stehen. Folglich ist ein Philosoph gut beraten, seinen Körper von diesen störenden Einflüssen fernzuhalten.
Mit dem Ableben des Körpers hat es damit ein Ende: durch den Prozess des Sterbens erfolgt die Trennung der Seele vom Körper, sie wird von den letzten Fesseln des Leibes befreit und ist nun "für sich allein".
Dies ist für einen Philosophen - als 'Freund der Weisheit' - der Idealzustand:

"Wenn wir je etwas rein erkennen wollen, müssen wir uns von ihm befreien,
und allein mit der Seele die Dinge an sich anschauen."
(Der Tod als Instrument, um kritische Distanz zu all den Einflüssen, denen die Lebenden mit ihren Trieben, Bedürfnissen und Befindlichkeiten ausgesetzt sind? Kann man so sehen, nur stelle ich mir den 'entkleideten' Erkenntnisprozess innerhalb der als Ewigkeit bezeichneten Dimension auf die recht einseitig vor, wenn nicht sogar schal.)
Insoweit sei es töricht, sich vor dem Tod zu fürchten. Erst nachdem diese Schwelle überschritten sei, lasse sich im Jenseits die endgültige Wahrheit finden.
Ohne anmaßend sein zu wollen, scheint es mir doch, als werde hier ein Aspekt übersehen: Bergen nicht auch die so sehr von Sokrates verachteten Erfahrungen und sinnliche Freuden (in Maßen genossen) wesentliche Impulse für den Versuch, die (gesamte) Wirklichkeit zu erfassen? Die Götter, die ‘ihrer Herde’ alles Gute und Notwendige angedeihen lassen, würden die Mitglieder dieser Herde kaum grundlos einem solchen ‘Gefängnis’ ausliefern…
Sokrates mahnt auch zur Besonnenheit, die für mich freilich implizieren würde, sowohl Körper und Sinne als auch Verstand und Seele in einem fortwährenden, fraglos schwierigen Balanceakt gleichermaßen zu ‘nutzen’, um Erkenntnis und Weisheit zu gelangen.

Hören und Sehen versetzen den Menschen überhaupt erst in die Lage, über komplexe Fragestellungen nachzudenken.

"Wenn einer ungeweiht und uneingeweiht im Hades ankommt, so wird er dort im Schlamm zu liegen kommen. Der Geläuterte aber und der Geweihte, wird nach seiner Ankunft dort bei den Göttern wohnen…"

Beweise für die Unsterblichkeit der Seele?

Die bisherigen Überlegungen und Annahmen des Sokrates setzen freilich einen entscheidenden Umstand als unumstößliche Tatsche voraus: Mit dem Tod stirbt allein der Körper, doch die Seele bleibt als Einheit erhalten. D.h. sie unterliegt auch nicht der Reorganisation wie die elementaren Bausteine des materiellen Körpers.
Dies dürfe man eben nicht einfach voraussetzen, wenden Freunde und Schüler des Sokrates ein – sonst bleibe von dem bisher Gesagten nicht mehr als eine schöne Hoffnung. Vielmehr bedürfe es "überzeugender Gründe und Beweise dafür, dass die Seele nach dem Tode des Menschen noch existiert und dass sie dann noch Kraft und Einsicht besitzt."

(Hier liegt für mich der bedeutsamste Knackpunkt, weswegen ich mich nicht auf dem Markt der religiösen und spirituellen Wettbewerbe für eines der angepriesenen 'Produkte' entscheiden mag: Solange diese Eingangsvoraussetzung nicht abschließend geklärt ist - was in Ermangelung von Rückmeldungen aus dem Hades weiterhin schwer fallen dürfte - sehe ich keinen Nutzen darin, meinen Fokus zu verengen und mir damit weitere wertvolle Denkimpulse vorzuenthalten. Besonders angenehm ist dies nicht, denn ich empfinde das Fehlen einer geistigen/geistlichen Heimat durchaus als Defizit.)

Auch Sokrates empfindet zwar Hoffnung auf Erlösung und Zuversicht in Bezug auf seinen Weg ins Jenseits, aber keine absolute und unwiderlegbare Gewissheit. Auch deswegen widmet sich er sich nun intensiv einer Beweisführung für die Unsterblichkeit der Seele.



(1) Werden aus dem Gegensätzlichen’ und der Kreislauf des Lebens

Hier wird angenommen, dass Gegensätzliches einander hervorbringt: Wo immer Gegensätze bestehen (warm - kalt, Gutes – Schlechtes, Licht – Finsternis) muss eine Veränderung von einem Zustand in einen entgegengesetzten Zustand erfolgen. Dieses Prinzip des Werden aus dem Gegensätzlichen’ gilt für alles, was wird.
Ferner bestehe die Notwendigkeit einer zyklischen Regeneration: Wenn irgendwo ein Mensch oder Tier stirbt, werde an einem anderen Ort ein gleichartiges Lebewesen geboren. Werden und Vergehen, Leben und Tod müssen einen Kreislauf bilden, sonst käme alles zum Stillstand.
"…würde nicht ebenso, lieber Kebes, wenn alles zwar stürbe, was am Leben Anteil hat, nachdem es aber gestorben wäre, das Tote immer in dieser Gestalt bliebe und nicht wieder auflebte, ganz notwendig zuletzt alles tot sein und nichts leben? 
Denn wenn zwar aus dem Andern das Lebende würde, das Lebende aber stürbe, wie wäre denn zu helfen, dass nicht zuletzt alles im Totsein aufginge?"
Wirklich einleuchtend finde ich diese Beweisführung noch nicht, jedenfalls nicht in Bezug auf das Weiterleben der immateriellen Seele. Unterstellt man freilich die Unveränderlichkeit der Seele [vgl. (3)], so schließt sich der Kreis des Werdens und Vergehens allen Lebens im 'biologischen' Sinne, wobei die Seele gleichsam als Katalysator an diesem Kreislauf teilnimmt. Aber wie lange?

(2) Wiedererinnerung
Kebes beruft sich auf die die Lehre der Wiedererinnerung: Danach ist Lernen die Erinnerung an etwas, das in einem früheren Leben bereits bewusst war. Folglich müsse die Seele schon vor der Geburt unabhängig vom Körper existiert haben. Sokrates erläutert dies an einem Beispiel:
Zwei Steine erscheinen uns gleichgroß – dennoch realisieren wir auf einer nicht-visuellen Ebene, dass sie nicht vollkommen gleichgroß sind. Dies sei nur möglich, da wir den Standard des Gleichgroßen an sich kennen und so Abweichung der Steine von diesem Standard erfassen.

Diesen Standard aber müssen wir lt. dieser Sichtweise schon vor unserer Geburt besessen haben. Daraus folgt für Sokrates: die Seelen  existierten schon zuvor, ohne den Körper. Eine solche Präexistenz der Seele besagt indessen noch nicht ihr Existieren über den Tod hinaus.


(3) Die Neigung der Seele zum Ewigen
Zerstörbarkeit beruht laut Sokrates darauf, dass Zusammengesetzte sich wieder in seine kleineren/kleinsten Bestandteile zerlegen lasse. Veränderlichkeit und beobachtete Veränderung ist ein Anzeichen für das Bestehen aus kleineren Bausteinen - Unveränderlichkeit kennzeichnet Unteilbares, also eine unzerstörbare Einheit.
"Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was nur ist selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an? Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich immer auf gleiche Weise und nimmt niemals auf keine Weise irgendwie eine Veränderung an?"
Wir erfassen Veränderungen durch Wahrnehmungen, das Unveränderliche dagegen erfassen wir überhaupt nicht und klassifizieren es daher als unsichtbar. Das Unsichtbare bleibe demnach immer gleich, unterliege keinerlei Veränderung und sei insoweit 'unzerstörbar'. So verhalte es sich auch mit der Seele (im Gegensatz zum Körper): sie ist unsichtbar und demzufolge weder veränderlich noch zerstörbar.
Solange sie sich mit der Welt beschäftigt, macht sie von den körperlichen Sinnen Gebrauch - damit ist für Sokrates ein Abstieg der Seele verbunden: für die Dauer des irdischen Lebens ist sie an veränderliche Objekte gebunden und von ihnen abhängig.

Deswegen ist die Seele nur verwandt mit dem Ewigen, sie erlangt ferner die Herrschaft über den Körper. In dieser Funktion sei mit dem Göttlichen vergleichbar, das über sterbliche Lebewesen herrsche. Somit sei die Seele dem Unveränderlichen, Göttlichen, Unsterblichen ähnlich, im Gegensatz zum Körper, der veränderlich und sterblich ist und bleibt.



(4) Seele bedeutet Leben, nicht Tod


Zuletzt argumentiert Sokrates, dass es Träger von Eigenschaften gibt,die aber nicht mit diesen Eigenschaften identisch sein müssen. So ist Feuer nicht identisch mit Hitze, aber ein Träger dieser Eigenschaft. Allerdings würde Feuer könnte niemals Kälte als Eigenschaft besitzen können.
Die Seele hingegen bringe das Leben als notwendige Eigenschaft mit sich. Durch ihre Anwesenheit werde der Körper belebt. Da der Tod dem Leben entgegengesetzt ist, kann die Seele den Zustand des ‘Tot-seins’ niemals annehmen, ohne das zu bleiben, was sie ist. Sie ist zudem unzerstörbar und somit könne die Seele niemals durch den Tod vernichtet werden.
Eine tote Seele wäre ein Widerspruch in sich, da die Seele der Träger des Lebens ist.-


Schließlich sind seine Freunde mit Sokrates einer Meinung und haben keine Einwände mehr (oder verzichten in dieser Situation des nahenden Todes taktvoll darauf, weitere zu äußern?).

Der Dialog endet mit der Schilderung, wie Sokrates sich von seiner Familie verabschiedet und der anschließenden Sterbeszene: Ruhig und gelassen habe Sokrates den ihm gereichten Schierlingsbecher getrunken und in Anwesenheit seiner weinenden Freunde das Eintreten des Todes erwartet. Phaidons Schluss-Satz :
„Dies, o Echekrates, war das Ende unseres Freundes, des Mannes, der unserm Urteil nach von den damaligen, mit denen wir es versucht haben, der trefflichste war und auch sonst der vernünftigste und gerechteste.“
---
Dies ist nur eine verkürzte Wiedergabe einzelner, m.E. zentraler Elemente des Dialoges. Es lohnt sich durchaus, den gesamten Text zu lesen und kritisch zu durchdenken. Was heute den Naturwissenschaftlern weder positiv noch negativ gelingt, konnte damals auch bei den Philosophen (aus Schule des Pythagoras) nicht in für alle Zeit unwiderlegbarer Weise funktionieren: Per mathematischer bzw. logischer Beweisführung kann die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele nicht letztgültig belegt werden - das fragliche Jenseits (als spätere 'Aufenthalts-Dimension' für die Seelen) ist den naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden nicht zugänglich. Zudem kommt Unsterblichkeit wohl nur durch eine immaterielle (über-natürliche) Komponente zustande, welcher auch für unser diesseitiges Bewusstsein und Verstandesvermögen nicht bzw. nicht vollständig zu erfassen ist.

Die Argumentation des Sokrates ist durchdrungen von dessen tiefer Überzeugung, dass die Seele unsterblich sei. Allein diese Überzeugung, nicht aber die Lückenlosigkeit seiner Beweisführung, lässt ihn voller Zuversicht dem Tode entgegen sehen. Worte wie "Der Tod ist erst der Anfang" könnten auch von ihm stammen.

Unerfreuliche Aspekte des gegenwärtigen Zeitgeistes resultieren aus der zwar oft verdrängten, aber sehr wohl präsenten Wahrnehmung vom Tod als gefürchteter Sensenmann, von dem kaum etwas angenehmes erwarten dürfe. Hier wird der für viele Menschen unbestreitbar leidvolle Sterbeprozess vermischt mit dem Zustand, der sich erst daran anschließt ...und von dem wir in Bezug auf die Seele herzlich wenig Wissen haben. 
Aus Angst vor beidem - einem potenziell wochen- oder Monate währendem Sterben sowie der Ungewissheit in Bezug auf den Zustand des Tot-seins - werden stressbehaftete Anstrengungen unternommen, um beides hinaus zu zögern. In angespanntem Lebenshunger wird der materieller Konsum und sinnliches Erleben(wollen) auf bisweilen zwanghaft anmutende Weise ausgeweitet und verlängert, bis die sichtbar begrenzte Lebenszeit dann trotz aller Angestrengtheit unwiederbringlich verronnen (vertan?) ist.
Gelänge es hingegen, den Tod als Freund oder wenigstens als einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Vollendung unseres Daseins aufzufassen, könnte dieser stetige Stress- und Verdrängungszustand eventuell abgemildert werden. Wir würden uns angstfrei auf einen Prozess der Umwandlung einstellen und einlassen können, den wir als vorläufiges Ziel dieses Lebens(abschnittes) betrachteten.
"Angst ist die größte Barriere der eigenen Entfaltung und somit ein Hindernis auf dem Weg zum Ursprung, zu Gott."  Stefan von Jankovich
Das 'unvermeidliche' irdische Leben verkäme dank einer dergestalt modifizierten Perspektive nicht länger zum fragwürdigen Selbstzweck des Überlebens, sondern dient nun der bewussten Vorbereitung "für die Werte des jenseitigen Lebens." Mit der Einschränkung, dass je nach persönlichem Reifegrad zuvor noch einige weitere Übungsrunden (im Sinne der Karma- und Reinkarnationslehre) anstehen könnten.
Auch wenn die von dem griechischen Gelehrten hochgehaltene Todessehnsucht m.E. in der Welt der Lebenden heute meist nicht in Erscheinung zu treten braucht (es mag durchaus begründete Ausnahmen geben wie z.B. unheilbare Krankheiten), dürfen wir uns an dieser Zuversicht des Sokrates ein Beispiel nehmen - unabhängig von unserer eigenen Religion oder Weltanschauung.

Nun, das ist die Theorie. In der praktischen Umsetzung hänge ich noch ein wenig fest: den Tod als unabänderliches Daseinselement und unausweichlichen Zustand fürchte ich nicht mehr, seit ich mich vom römisch-katholischen Konzept der Höllenstrafen distanzieren konnte. Meine Furcht vorm Sterben ist hingegen geblieben, als unbelehrbarer Konsument einer Alltagsdroge (Nikotin) gehe ich nicht von einem notwendigerweise friedlichen Einschlafen aus. Je intensiver ich mich indessen mit Aspekten von Sterben und Tod auseinandersetze (z.B. Patientenverfügung? Organspende?), um so ruhiger bleibe ich innerlich, wenn der Gedanke 'Na, mit mehr 50 Jahren kommst du allmählich auf die Zielgerade' wieder einmal aufkommt.

Platons Phaidon, mit Hans-Georg Gadamer 



Anmerkungen


  1. Platons Ideenlehre ist die neuzeitliche Bezeichnung für die auf Platon (428/427–348/347 v. Chr.) zurückgehende philosophische Konzeption, die Ideen als eigenständige, dem Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Objekte ontologisch übergeordnete Entitäten annimmt. Solche Ideen werden zur Unterscheidung vom modernen Sprachgebrauch, in dem man unter „Ideen“ Einfälle, Gedanken oder Leitbilder versteht, „platonische Ideen“ genannt.




Übersicht zur Ideenlehre (Quelle: Wikipedia)


Platonische Ideen sind beispielsweise „das Schöne an sich“, „das Gerechte an sich“, „der Kreis an sich“ oder „der Mensch an sich“. Nach der Ideenlehre sind die Ideen nicht bloße Vorstellungen im menschlichen Geist, sondern eine objektiv existierende metaphysische Realität. Die Ideen, nicht die Objekte der Sinneserfahrung, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind vollkommen und unveränderlich. 

Als Urbilder der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Voraussetzung von deren Existenz. Platons Ideenkonzeption steht somit in polarem Gegensatz zur Auffassung, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den Allgemeinbegriffen nichts steht als das Bedürfnis, zur Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren.



Dienstag, 21. August 2012

Rupert Lay - Die Ethik der Egoisten

Rupert Lay hielt nachfolgenden Vortrag zum Thema "Die Ethik der Egoisten". bereits im September 2000. Dennoch haben seine Ausführung nichts von ihrer Aktualität eingebüßt; lediglich waren zum damaligen Zeitpunkt spätere Eskalationen (9/11, diverse Angriffskriege) noch nicht eingetreten und vermutlich auch nicht vorhersehbar...


Ethischer Egoismus ist übrigens ein feststehender Begriff, er benennt die weit verbreitete Auffassung, man solle stets tun, was für einen selbst am besten sei.
"Einige ethische Egoisten behaupten, (nur) die Handlungsweisen des Homo oeconomicus seien die ethisch angemessenen. Daraus folgt, dass ein ethischer Egoist auch andere sehr stark berücksichtigt, aber nur wenn er sich dabei selbst einen möglichen Nutzen verspricht – entweder unmittelbar oder auf lange Sicht. Verzichtet ein Homo oeconomicus auf die ethische Rechtfertigung seiner Handlungen, so wird er zum Amoralisten."
„Egoismus“ wird im alltäglichen Sprachgebrauch meiste abwertend gebraucht, um rücksichtsloses Verhalten einer Person zu bezeichnen, die als ausschließlich persönliche Interessen verfolgend wahrgenommen wird. 
"Egoismus wird in diesem Zusammenhang als Gegenteil von Altruismus und Solidarität kritisiert, was allerdings nur dann zutrifft, wenn bei der Beurteilung des Handelns der innere Nutzen gar nicht in Betracht gezogen wird."
Liebhaber von Kompromissen befürworten eher einen "gesunden Egoismus", der zumindest in semantisch die Möglichkeit berücksichtigt, es könne sehr wohl auch ein 'ungesunder, übertriebener' Egoismus existieren. Ungeachtet dessen wird die Grundeinstellung beibehalten, dass das eigene Wohlergehen weitgehend im Vordergrund steht, wobei allerdings eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit von Eigen- und Fremdinteressen stattfindet.




Sonntag, 19. August 2012

Physik vor dem Kollaps?

Nicht nur Ausnahmepersöhnlichkeiten wie der Physiker Hans-Peter Dürr kommen allmählich auf den Trichter, dass “mit der Physik” etwas nicht stimmt. 31 Naturkonstanten mussten festgesetzt (“erfunden”) werden, damit die bisher aufgestellten Formeln überhaupt noch dazu taugen, die Funktionsweise der Welt zu beschreiben.

Die beiden großen Modelle – Quantenphysik und Relativitätstheorie – bekommt sie nur unter einen Hut, wenn sie den theoretischen Unterbau geradezu in einem ‘großen vereinheitlichen Ansatz’ vergewaltigt. Die Erfolge sind dennoch als mager zu bezeichnen.

Gerade bei ihrem Versuch, ein kohärentes (in sich stimmiges) Gesamtverständnis von Realität und Materie zu entwickeln, stößt die Naturwissenschaft an ihre Grenzen.

Auch passen ‘merkwürdige Beobachtungen’ nicht recht um b, die darauf schließen lassen, dass etwas nicht stimmt in unserem Grundverständnis des Kosmos.

So hat man jüngst erkannt, dass das Universum beschleunigt expandiert. Alles fliegt immer schneller auseinander. Keiner versteht, welche Kraft hier treibt, daher sprechen Astrophysiker von "Dunkler Energie" - nicht mehr als ein Synonym für ihr Unwissen.”

Auch haben die Physiker in ihren kilometerlangen Teilchenbeschleunigern die Gesellschaft bzw. die öffentliche Rezeption ihrer Arbeiten längst hinter sich gelassen. Wie sonst sollte zu erklären sein, dass das hektisch gesuchte IGGS-Boson von den Medien mit dem Eyecatcher ‘Gottesteilchen’ belegt wird?

Die Sendung kommt etwas flapsig-humorvoll daher, liefert aber durchaus ernstzunehmende Denkanstöße und stellt die richtigen Fragen.

Prof. Hans-P. Dürr: Versöhnung von Wissenschaft und Religion

Der Quantenphysiker Hans–Peter Dürr(1) vertritt einen ganzheitlichen, auf die Synthese und Versöhnung von Physik und Metaphysik abzielenden Wissenschaftsansatz, der inmitten der ideologisch geprägten Konflikte unserer Gegenwart beachtens- und erstrebenswert anmutet.

Zu seiner holistischen Sicht der ‘neuen’ Physik und zugleich aller Lebensprozesse finden sich hier einige Anmerkungen.

Die Naturwissenschaften sowie die mit ihnen gewachsene Technologie haben unsere Welt und unser aller Leben dramatisch verändert. Was uns Vorteile und Privilegien eröffnete, hat zugleich nachteilig auf die gesamte Biosphäre ausgewirkt - die lt. Dürr gegenwärtig in eine “ernste Existenzkrise” schlittert. Warum er diese Krise infolge einer Störung des biologischen Gleichgewichts heraufziehen sieht, stellt Professor Dürr in seinem Beitrag “Wirklichkeit des Lebens” dar.  

Im Grunde handele es sich um eine Reihe von Krisen:
  • eine „Krise der Immanenz“: uns könnte die unmittelbare Erfahrung verloren gehen, das wir als Menschen unauflösbar im Transzendenten verankert sind,
  • eine „Erschöpfung der Moderne“: Brüchigkeit und Unzulänglichkeit unserer heutigen säkularisierten (rein weltlichen), materialistischen Weltanschauung treten immer deutlicher in Erscheinung. Gerade unser industrialisierter, vermeintlich “entwickelter” Teil der Welt – leidet trotz allem materiellen Überfluss und all der Überflutung mit Reizen an einem Defizit, welches Dürr treffend als “Hunger nach Geistigem und Sinnhaften, ein Gefühl von Verlorensein und Einsamkeit” charakterisiert.
Die tieferen Ursachen unserer Frustration würden gar nicht bewusst, stellt der Physiker fest, weshalb wir auch nicht die Notwendigkeit sehen (und bereit sind), ‘geeignete Nahrung’ aufzunehmen.
Hm ...Ist es nicht eher so, dass viele Menschen heute sehr wohl wissen (oder wenigstens intuitiv erahnen), was mit ihnen los ist? Sie erkennen allmählich: der trügerische Mix aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und materiellem Wohlstand machte Spiritualität nur vordergründig überflüssig.
In dem vermuteten Gegensatz zwischen Wissenschaft und Spiritualität haben die meisten Menschen sich der ‘Rationalität’ unterworfen wie Faust seinem Mephisto.
Bei aller hochgelobten Rationalität’  reduziert sich die gegenwärtige Form von Vernunft eher darauf, scheinbar exaktes Wissen zu sammeln und in kritischem Denken zu verarbeiten – mit dem Zweck, unseres willentliches Handeln besser zu steuern. In Wahrheit aber sträuben wir uns, das im eigentlichen Sinne Vernünftige zu tun. Folglich bleibt die zweite, wesentliche Seite – “die abwägende, wert-trächtige Vernunft” vielfach außen vor.
"Gelingt es uns einmal, einen kleinen Zipfel der "Wahrheit" zu erhaschen, dann meinen wir in diesem Zipfel gleich die einzige und ganze Wahrheit zu sehen. 
Wir betrachten das ganze Weltgeschehen nur unter dieser einen neuen Einsicht und zwängen, was nicht so recht passen will, mit Intelligenz, Schlauheit, Eloquenz, doch auch mit unbewusster oder bewusster Mogelei und Gewalt in dieses Korsett."
Was nicht in dieses Denk- und Bewertungsschema nicht passt, wird passend gemacht – um das mühsam erworbene, Sicherheit versprechende Paradigma nur ja nicht infrage stellen zu müssen. Die Motivation dahinter ist verständlich: Wir sind beseelt von dem alten Wunsch, die undurchsichtige Komplexität unserer Welt auf etwas Überschaubares und damit Einsehbareres zu reduzieren. Unsere verkürzten Vorstellungen der Wirklichkeit gestatten uns, die Unsicherheit und Zukunftsängste auf ein erträgliches Maß abzumildern.

Dürr spricht hier von ‘Nachbildungen der Wirklichkeit’, was immerhin bei Astrid Lindgrens’ junger Protagonistin geklappt hat (“Wir machen uns die Welt, wie wie wie sie uns gefällt”:)



Grenzen des Wissens ...Sokrates hatte es verstanden



Der Versuch jegliche Unsicherheit zu beseitigen erwiest sich zum wiederholten Mal als Illusion. Durch unser Wissen haben wir zwar prinzipiell die Möglichkeit, mit absichtsvollem Handeln unsere Überlebenschancen zu verbessern. Kurzfristig scheint uns dies sogar zu gelingen. Zwanghafter Wissenschaftsglaube und Technokratie mutieren zu einem Fundamentalismus, wie er den Kirchen spätestens seit der Aufklärung vorgeworfen wurde.

Dabei habe die moderne Physik eine prinzipielle Schranke deutlich sichtbar gemacht:
“Nicht alles ist wissbar.”
Es gibt heute ein Wissen um prinzipielles, dauerhaftes Nichtwissen (z.B. über das, was 'vor' und genau im Augenblick des Urknalls geschah). Diese Grenzen des Wissens, die wohl auch in Zukunft fortbestehen werden, eröffnen gegenwärtig wieder Räume, die nur durch Glauben bzw. Spiritualität zugänglich sind, der mehr bedeutet als ein Noch–nicht–wissen.

Ausgelöst wurde diese Erkenntnis des Nicht-Wissen-Könnens durch die Entdeckungen in der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts sowie eine radikale Neuinterpretation durch Niels Bohr und Werner Heisenberg. Der unausweichliche Paradigmenwechsel beruht wesentlich auf der alten und doch neuen Erkenntnis, dass die Realität nicht im Sinne einer ‘dinghaften Wirklichkeit’ zu verstehen ist:

“Materie besteht nicht aus Materie.”
Das Atom (atomos=unteilbar) im eigentlichen Sinne eines kleinsten, nicht weiter zerlegbaren Materiebausteins gibt es nicht. Am Ende (des Zerlegens) bleibe nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung.
Alles, was die Naturwissenschaft als ‘stoffliche Realität’ beobachte und beschreibe, dürfe nicht verwechselt werden mit der dahinter liegenden, ‘eigentlichen’ Wirklichkeit. Denn die bislang nur zweiwertig (im Ja/Nein -Prinzip) aufgefasste Wirklichkeit offenbare sich als Potenzialität, als ein „sowohl/als auch“. Potenzialität erscheint als das Eine, das sich nicht auftrennen, grundsätzlich nicht zerlegen lässt.
“Dies führt weiter dazu, dass zukünftige Ereignisse sich nicht mehr eindeutig aus gegenwärtigen Gegebenheiten prognostizieren und kausal erzwingen lassen, da alles mit allem auf eine komplexe Weise zusammenhängt und Beziehungen sich nur noch in einem statistischen Sinne bewerten lassen.”
Den Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung setzen nicht nur Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Thermodynamik Grenzen. Gerade die reifsten physikalischen Theorien enthalten selbstbegrenzende Aussagen und erklären explizit, worüber auf naturwissenschaftlicher Ebene nicht mehr sinnvoll geredet werden kann:
  • Jene Theorien haben ihren definierten Gültigkeitsbereich, deshalb lassen sie z.B. keine Aussagen über den Urknall selbst und das fragliche ‘Davor’ zu.
  • Jenseits des kosmologischen Horizontes sind die Bedingungen, unter denen Naturwissenschaft erfolgreich sein kann, nicht mehr erfüllt.
Glaubt man dem britischen Astrophysiker John D. Barrow, dann ist die Tatsache unseres Nicht-Wissen-Könnens nicht überraschend, sondern vielmehr ein evolutionsbiologisches Resultat. Aus Sicht der Evolution dienen unsere Sinne und unser Gehirn nicht primär dazu, die Welt zu verstehen, sondern um in ihr zu überleben. Dass wir über uns und die Welt nachdenken können, sei insofern ein zufälliges Nebenprodukt der Evolution, in dem wir nicht zwangsläufig besonders gut sind.
Obwohl jene Entdeckungen und Erkenntnisse aus Quantenphysik und Relativitätstheorie vor fast hundert Jahren publiziert wurden, sind diese ‘neuen Vorstellungen’ bis heute nicht in den Sozialswissenschaften und im politischen Alltag angekommen. Vermutlich fehle es uns an geistiger Reife, uns von einer gewohnten Vorstellungswelt zu lösen. Während dieser hundert Jahre wurden die unverstandenen Potenziale dennoch "wie von Zauberlehrlingen" technologisch genutzt, ohne ihre Risiken Auswirkungen in ihrer Gesamtheit zu begreifen.

Darin erkennt Dürr eine zeitweilige Unfähigkeit, unser Handeln mit angemessenem Denken in Einklang zu bringen – was eine existenzielle Gefahr heraufbeschworen hat: Die entfesselten, aber nur oberflächlich verstandenen Einwirkungspotentiale “könnten die Menschheit leicht aus der Evolution des Lebendigen hinaus katapultieren”.

Wie richtig Dürr mit seiner Diagnose liegt, zeigen dramatische Eskalationen wie die Kubakrise, Tschernobyl oder Fukushima; Aus begangenen Fehlern und ihren auf Jahrtausende wirksamen Konsequenzen lernen wir nicht oder zu langsam lernen.
Doch sei ausgerechnet dieses neue naturwissenschaftliche Weltbild dazu geeignet, die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften wieder zusammenzuführen. Es erlaube sogar, Glaube/Religion und Wissenschaft als komplementäre Elemente einer umfassenden Sichtweise zu verstehen. Der Glaube würde nicht länger auf das Wenige beschränkt, was bis zu einem Zeitpunkt ‘noch nicht gewusst’ wurde und erhielte mit Anerkennung der prinzipiellen Einschränkung des Wissbaren seine volle Bedeutung und Eigenständigkeit zurück.

 

"Glaube und Wissenschaft suchen eine Wahrheit auf verschiedenen Wegen"

Sobald der Wille dazu vorhanden ist und es gelingen sollte, Natur- und Geisteswissenschaften sowie auch spirituelles Wissen in einem holistischen Weltbild zusammenzuführen, gehören ‘absolute Wahrheiten’ in Glaube und Wissenschaft der Vergangenheit an. An ihre Stelle werde eine „offenere, vieldeutige Wahrheit“ treten, die in subtiler Weise Glaubens- und Wissenselemente enthalte – prognostiziert Prof. Dürr.
Aus heutiger, konventioneller Sicht ist dies zwar wünschenswert, aber nur schwer vorstellbar: Denn der Gläubige sucht auf grundlegend andere Weise nach diametral gegensätzlichen Wahrheiten wie ein reduktionistisch, analytisch vorgehender Naturwissenschaftler. Im unserer alltäglichen Denkweise ist Glaube gerade das Gegenteil von Wissen; denn sobald ich etwas mit Bestimmtheit weiß, hat sich der Glaube erübrigt – oder er hat seine Bestätigung erfahren.


Freilich könnte Dürr Recht behalten: bei aller Verschiedenheit suchen Wissenschaftler und Gläubigen letztlich nach Antworten auf dieselben Fragen. Dürr spricht hier von zwei Arten des Wissens:

  • Wissenschaft vertritt die „Außenansichtmit „begreifbarem Wissen“ und der Trennung von Beobachter und dem Beobachteten.
  • Daneben existiere auch die „Innensicht“, welche die „Gewissheit um den inneren Zusammenhang“ erfahre und ihrem Wesen nach immer holistisch sei.
Inhaltlich sind Glaube und Wissenschaft nicht so weit auseinander, wie es zunächst scheint: Die von uns als allgemeingültig erachtete zweiwertige Außenansicht (Ja oder Nein) hat nur begrenzte Gültigkeit. Wie die Quantenphysik gezeigt hat, ist sie nur grobes, modellhaftes Abbild einer tieferen Wirklichkeit, deren Züge sich uns getreuer durch Innensehen offenbaren.
Obwohl der Wissenszuwachs in Forschung und Wissenschaft sprunghaft ansteigt und die Kosmologen mehr Entdeckungen machen als jemals zuvor, kommen die Menschheit in der Beantwortung der eigentlichen Kernfragen nicht weiter. Professor Dürr zeigt hier den Weg aus einer Sackgasse auf, in der wir uns befinden, seitdem unsere Erkenntnisfortschritte nach dem “Leben, dem Universum und dem ganzen Rest”2) stagnieren. Als Ursache hierfür erkennt Professor Dürr die Selbstbeschränkung der Naturwissenschaft auf das mit ihren Methoden Wahrnehmbare.

So ungeheuerlich es auch für eingefleischte Empiriker klingen mag, Auf die Erkenntnispotenziale der Metaphysik dürfe deshalb nicht länger verzichtet werden, indem sie per Definition einfach ausklammert. Bevor hier eine Trendwende entstehen kann, muss zunächst die wichtige Einsicht nachvollzogen werden, dass es in der Naturwissenschaft die o.a. stabilen Bereiche des Nichtwissens gibt.

“Religion und Wissenschaft sind ihrer Wahrnehmung nach komplementär.”
Vorläufig aber bestehe der Eindruck, dass die klugen Köpfe unter den Naturwissenschaftlern sich der Grenzen ihres möglichen Wissens zwar bewusst sind und diese Tatsachen ganz gerne verdrängen – dadurch können sie eine Weile noch so agieren und auftreten, als ob ihrem Tun keine Grenzen gesetzt wären.
Im Interesse des Erkenntnisfortschritts läge es jedoch, wieder zu einer fruchtbaren und konstruktiven Kooperation mit den Philosophen und Theologen zurückzukehren – und zwar auf Augenhöhe. Dadurch würden wir nach Professor Dürr auf einem guten Weg begeben, uns an “das Leben, das Universum und den ganzen Rest” anzunähern – nicht durch Anhäufung von Faktenwissen, sondern durch Zulassen neuartiger Erfahrungen.

Nur indem sich die beiden nur scheinbar unversöhnlichen Lager von Religion und Naturwissenschaft auf einen “offenen, inter-subjektiven  und intensiv-empathischen Dialog” einlassen, eröffne sich eine aussichtsreiche Chance, den Kern unseres Daseins seinem Wesen nach zu erfassen.

Hinweise dafür, dass Hans-Peter Dürr auf der richtigen Spur sein dürfte, liefert auch die nano spezial-Folge (3SAT) mit dem Titel “Physik vor dem Kollaps”.

Vortrag v. Prof Hans-Peter Dürr: Wir erleben mehr als wir begreifen!


Siehe auch:




  • ‘Wirklichkeit des Lebens’, Hans-Peter Dürr







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Anmerkungen
1) Hans-P. Dürr (geb. 1929) war von 1958 bis 1976 Mitarbeiter von Werner Heisenberg, den er in seinem Projekt zur Entwicklung einer vereinheitlichten Feldtheorie der Elementarteilchen unterstützte.
Nach seiner Emeritierung widmete sich Dürr auch erkenntnistheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Er erkannte unser aller Verantwortung für einen ressourcenschonenden Umgang mit unserer Umwelt gründete er das Global Challenges Network (GCN e.V.) –diese Organisation knüpft ein Netz aus Projekten und Gruppen, die konstruktiv und gemeinsam „an der Bewältigung der Probleme arbeiten, die uns und damit unsere natürliche Umwelt bedrohen“.
Dürr ist Träger des alternativen Nobelpreises und des Bundesverdienstkreuzes und Mitglied im Club of Rome.

2) Vergleiche:
    a) Life, the Universe and Everything
    b) ‘Deep Thought’ und der Sinn des Lebens)




Mittwoch, 15. August 2012

Unerwartete Bereiche der Realität

Buchtipp: ‘Die verborgene Wirklichkeit’ von Brian Greene


Prof. Brian Greene hat in Harvard und Oxford studiert und lehrt seit 1996 Physik und Mathematik als Professor an der Columbia University (New York). Als Experte für String und Superstring-Theorien und Kenner hat u.a. die Bestseller „Das elegante Universum“ und „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“ (2004) verfasst. 


Brian Greene’s neues Buch ‘Die verborgene Wirklichkeit’ kommt mit dem Titelzusatz ‘Wir sind nicht allein’ daher. Hat sich der bekannte Autor populärwissenschaftlicher Bücher zu Kosmologie und Physik jetzt auch der wachsenden Gemeinde der UFO-Gläubigen angeschlossen? Kaum.

Die Erkenntnisse der Physik erfordern “bereits für sich genommen radikale Veränderungen an unserem Bild vom Kosmos”…: Raum, Zeit, Materie und Energie verfügen über ein Verhaltensrepertoire, das weit über unsere Alltagserfahrung hinausgeht.
Konkret geht es in diesem Buch primär darum, die wichtigsten wissenschaftlichen Konzepte über Paralleluniversen zu beschreiben und kritisch zu untersuchen.


Man darf sich die Frage stellen: ‘Was ist los in etablierten Physikerkreisen, wenn Stephen Hawking sich allmählich vom Urknall verabschiedet und Brian Green ernsthaft über Parallelwelten nachdenkt?’ Doch diese Öffnung weg vom einseitigen Wissenschaftsdogmatismus kann nur positiv bewertet werten…und wurde höchste Zeit.

Die Definition, was ein ‘eigenständiges Universen’ sei, bezeichnet Greene als schwierig; analog zur Pornographie lasse sich vereinfachend feststellen: “Wenn ich es sehe, weiß ich es.” Alles was im Weltraum existiert oder einen Einfluss auf uns hat, gehört dazu. Wir wissen nicht, wie es wirklich entstanden ist, woraus es besteht und wie es sich entwickeln wird. Ähnlich problematisch die Festlegung der Begrifflichkeit ‘Paralleluniversum’ – abstrahiert laute die zentrale Frage: 
Wird unsere konventionelle Vorstellung durch die Existenz von Bereichen in Frage gestellt, die nahelegen, dass das, was wir lange Zeit für das Universum gehalten haben, letztlich nur ein Bestandteil einer viel größeren, vielleicht auch viel seltsameren und größtenteils verborgenen Wirklichkeit ist?
Die Antwort scheint Ja zu lauten, jedenfalls haben Fortschritte in der Quantenphysik und Kosmologie sowie das Bemühen um eine Vereinheitlichte Theorie dazu geführt, dass Naturwissenschaftler heute über Formen von Paralleluniversen ernstlich nachdenken. Zählte der Begriff des Multiversums vor zehn Jahren zu den Lieblingskindern belächelter Mystiker mit esoterischem Touch, legen inzwischen manche Wissenschaftler in ihren Theorien, dass es unfassbar große Anzahl anderer Universen gibt, zu denen wir allerdings absolut keinen Zugang haben.
In seinem neuen Buch stellt Greene vor, wie parallele Welten entstanden und aufgebaut sein könnten.

Allerdings gehen Vorstellungen und Thesen über die Beschaffenheit paralleler Welten noch sehr weit auseinander. Der noch sehr spekulative Charakter solcher Überlegungen zeigt sich gerade an der Frage, ob Paralleluniversen wohl den gleichen Naturgesetzen unterliegen, die wir kennen – oder ob dort ein anderer Satz Regeln Gültigkeit besitzt. So lasse die Stringtheorie drei Varianten zu: das Branen-, das zyklische Universum und das Landschafts-Multiversum. Wie dem auch sei, eines scheint sich zu erhärten: Wir leben in einem von vielen Universen.

Schon Platon deutete in seinem Höhlengleichnis die Möglichkeit an, unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit könnte bloß ein schwacher Widerschein einer viel umfassenderen, komplexeren Realität sein. Mehr als nur eine Metapher?
Offenbar steht unser bisheriger Wissensstand vor einer erneuten Umwälzung.

Das neue Buch von Greene eignet sich durchaus für interessierte Laien. Diese benötigen, je nach Vorbildung und Wissensstand, Geduld und ein gewisses Durchhaltevermögen, damit diese Lektüre die erwarteten Einblicke in die mutmaßliche Beschaffenheit unserer Wirklichkeit erschließen kann.
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Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos.
übersetzt von Sebastian Vogel
Siedler Verlag, Berlin 2012 - 448 Seiten, 24,99 Euro

Dienstag, 14. August 2012

Der ‘Beweis’ biblischer Wahrheiten–ein religiöser Zirkelschluss?


Wann immer ich Artikel mit Tags wie ‘Gottesbeweis’ oder ‘Warum die Bibel 100% wahr ist’ entdecke, lese ich diesen meist mit recht großem Interesse. Besonders dann, wenn archäologische Ausgrabungen (vgl. Archäologie Palästinas) oder die Analyse alter Schriften (vgl. Qmran, Nag Hammadi) biblische Aussagen stützen sollen.
Es kommt aber vereinzelt vor, dass ich nach dem ersten Drittel entnervt aufgebe – wenn die vorgefundene Argumentation einen typischen Zirkelschluss aufweist und sinngemäß nur erklärt: 'Die Bibel ist das Wort Gottes - sie ist wahr, weil in der Bibel steht, dass sie wahr ist.'
Bibeltreue Christen vertreten offensiv ihren Anspruch, dass die vollständige Bibel ausnahmslos von Gott inspiriert sei. Als Beweis hierfür zitieren sie gerne Bibelpassagen (z.B. Worte Jesu), die eben dies ausdrücken sollen. Unterstützend werden tausende Prophetien angeführt, die sich vorgeblich erfüllt haben.


Ein Zirkelschluss oder Zirkelbeweis ist ein “Beweisfehler, bei dem die beweisenden Behauptungen das erst noch zu Beweisende schon enthalten.”

Diese Art der Argumentation beruht darauf, dass man etwas als wahr annimmt (= eine noch beweisbedürftige Prämisse aufstellt) und diese noch unbewiesene Aussage selbst als Voraussetzung einsetzt, um damit weitere Aussagen als offensichtlich wahr darzustellen.
In eine geschickten Argumentationsketten kann dieser Selbstbezug auch über mehrere Stufen erfolgen, sodass der Zirkelschluss nicht (sofort) offensichtlich wird und mitunter schwer zu entdecken ist.


Wird der fehlerhafter Charakter einer solchen Beweisführung dann offen gelegt, schädigt er nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit dessen, was bewiesen werden sollte – eigentlich ist dies ebenso unschlüssig wie der Zirkelschluss an sich. Mit anderen Worten: Eine unzulässige Beweisführung kann ebensowenig belegen, dass die Bibel unwahr sei.


Montag, 13. August 2012

Über die Kunst, kein Egoist zu sein

Gesprächsrunde u.a. mit Richard David Precht (WDR,Planet Wissen)

ist Gier etwas ganz natürliches? Ist Geiz wirklich geil, wie die Werbung suggeriert und dabei doch zum vermehrten geldausgeben veranlassen will? Oder ist Egoismus ein erlernter Verhaltensmotivator, der Anerkennung verspricht? Wie kommt Hilfsbereitschaft zustande und wovon hängt sie ab?

In dem, wie ich meine, überaus interessanten Gespräch ist u.a. auch von kognitiver Dissonanz die Rede, die unser Verhalten gegenüber anderen mitbeeinflusst. Darunter versteht die Psychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, wenn ein Mensch z.B. einen drastischen Unterschied zwischen Eigen- und Wahrnehmung spürt, oder Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten –, die nicht miteinander vereinbar sind.

  • Ein klassisches ’Beispiel’:
    In Äsops Fabel
    Der Fuchs und die Trauben möchte der Fuchs Trauben fressen, ist jedoch unfähig, sie zu erreichen. Statt sich sein Versagen einzugestehen, wertet er die Trauben ab als „zu sauer und nicht der Mühe wert“:

Verkürzt gesagt, wollen wir uns selbst für ‘gut’ (fair, clever, integer etc.) halten dürfen …und wir haben den Wunsch, das unsere Freunde, Kollegen usw. das genau so sehen. Tun sie das nicht, fühlen viele Menschen sich unwohl und oft genug unverstanden – aber die Reaktion kann unterschiedlich ausfallen:

  • Entweder wir sind ehrlich zu uns selbst, haben eine Art Schuldempfindung und korrigieren das eigene Verhalten – abhängig von unserer jeweiligen Situation und dem Ausmaß der Konsequenzen, die sich aus der Verhaltensänderung ergeben.
  • Oder wir greifen auf Strategien der Dissonanzauflösung zurück:
    beispielsweise
    projizieren unsere negative Empfindung auf den/die Menschen, die ein anderes Bild von uns haben, als wir uns wünschen. Wir reagieren dann verletzt, rechtfertigen uns, relativieren unser Verhalten und werfen den anderen Fehleinschätzungen oder Boshaftigkeit vor.
    Selbst in diesem Fall, wenn wir uns fast erfolgreich eingeredet haben, dass die anderen schuld sind, gelangen wir bisweilen zu neuen Einsichten, wenn auch verzögert.

Die Talkrunde verbleibt nicht bei der philosophisch-psychologischen Analyse menschlicher Vorstellungsbilder zu ‘gut’ und ‘böse’ – beides ist nicht definierbar, sondern basiert stets auf einer veränderlichen Übereinkunft. Vielmehr werden auch Möglichkeiten diskutiert, wie der einzelne durch sein Konsumverhalten daran mitwirken könne, dass ‘die Welt besser wird’:

Ein Aspekt fehlt mir in dieser Runde fast vollständig: das Gruppenverhalten und die Motivationsbildung von Institutionen: Gerne hätte ich mehr darüber erfahren, wie Firmen, Interessengruppen oder auch Teiler der Gesellschaft im Hinblick auf die Motivation gemeinschaftlich ausgeübten Verhaltens ticken…

ESM: Brauchen wir einen Notausgang? (II)

Im ersten Teil dieser “Ich erkläre mir die Eurokrise und den ESM selbst, wenn Frau Merkel es nicht mal versucht”- Abhandlung wurde versucht, ein Grundverständnis für die Ursachen der Eurokrise herzustellen – nicht meinerseits, denn von mir selbst stammt im Grunde nur der Hinweis auf drei m.E. geeignete und verständliche Filme von insgesamt gut 2 Stunden Dauer…

Der dritte Film (Finanzkrise für Anfänger’, Phönix) befasst sich allgemein auch mit politischen Lösungsstrategien zur Beilegung der Eurokrise, stammt aber aus Dezember 2011, als noch niemand die Notwendigkeit einer noch größeren, dauerhaften Rettungsmaßnahme als den ‘1. Rettungsschirm’ vorhersah.

Bisherige Kraftanstrengung reicht nicht aus

In der Zwischenzeit hat sich eine Form von Ansteckung ereignet – bisher sind 192 Milliarden Euro fest eingeplant – Italien schwächelt und auch Spanien hätte gerne (soll heißen: benötigt dringend) zwischen 100 und 300 Milliarden Euro. 

Der Rahmen des ESFS reicht nicht aus, um den bedürftigen Staaten zur Hilfe zu kommen und außerdem verlorenes Vertrauen. Auch die Laufzeiten von Krediten zu verlängern und die Zinsen noch weiter zu senken, wird die Ausweitung der Krise nicht unterbinden, sondern bestenfalls hemmen.

Euroland im freien Fall? Vielleicht noch nicht, aber die bisherigen Kraftanstrengungen waren erst der Anfang.  Die von der Bundesregierung ausgegebene Losung ‘Hilfe als Gegenleistung für glaubhafte Sanierungsmaßnahmen’ erscheint den meisten Europäern nach wie vor vernünftig und richtungsweisend.
Es komme angesichts der Höhe künftiger Haftungsrisiken aber auch auf das WIE an, und eben gegen die konkrete Gestaltung des
neuen Rettungsschirms richtet sich ein großer teil der Kritik.

Der neue Rettungsversuch aus Fiskalpakt0) (s. Vertragstext), ESM und weiteren Komponenten soll größer, besser, anders werden als alle bisherigen – aber auch konsequenter und vor allem dauerhaft. Das Package war bereits auf dem EU-Gipfel vom 21. Juli 2011 beschlossen worden und sollte bis Juli 2012 von den Parlamenten der einzelnen Staaten ratifiziert sein. Bis Juni 2013 soll er Geltung den provisorischen Rettungsschirm EFSF ersetzen, der dann ausläuft.

Der Vereinbarungsinhalt wurde mehrfach und weitreichend modifiziert. Stets war die Bundesregierung von einer staatlichen Haftung ausgegangen. Aber: Infolge der Beschlüsse des letzten (?) EU-Gipfels aber wird die EU-Kommission unter Einbeziehung der Europäischen Zentralbank eine zentralisierte Bankenaufsicht für die Euro-Zone konzipieren. Sobald die angestrebte zentrale Bankenaufsicht steht, erhalten Banken die Möglichkeit, vom ESM direkte Hilfen zu beziehen!
Auch diese Form von ‘Geschäftstätigkeit’ wird dem ESM eingeräumt (s.u.)

Natürlich hat die Mobilmachung der Gegner längst begonnen; zugleich sei das Klima der mitteleuropäischen EU-Länder sei aufgeheizt, berichtet der SPIEGEL. Nicht nur dort: Auch hierzulande verschärft sich die Tonlage, in der für und wider die Euro-Rettungsmaßnahmen gestritten wird.

 

 

Was besagt der ESM-Vertrag?

Was steht in dem Vertragswerk, von dem Gerüchte behaupten, es sei hauptsächlich von der anglo-amerikanischen Anwaltskanzlei „Freshfields Bruckhaus Deringer“ erstellt” worden – und “inhaltlich fern jeder europäischen Rechtskultur?

Die 62 Seiten Vertragstext enthält unter anderem folgende Bestimmungen:

Aufgaben des ESM

  • Gewährung von Stabilitätshilfe
  • und im Bedarfsfall die Durchführung von “Finanzhilfe in aller Eile”
  • vorsorgliche Finanzhilfe, in Form einer bedingten oder einer gewährten Kreditlinie

    Die Hilfe erfolgt als Darlehen oder Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds jeweils gegen wirtschaftspolitische Auflagen1). Enge Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds ("IWF") wird jeweils angestrebt.

    Die Übernahme Rechte und Verpflichtungen der bisherigen EFSF ist möglich und bekanntermaßen beabsichtigt.

  • Maximales Darlehensvolumen: Bis zur vollständigen Abwicklung der EFSF liegt die Darlehensvergabe von ESM und EFSF unbeschadet der regelmäßigen Überprüfung der Angemessenheit des maximalen Darlehensvolumens bei höchstens 500 Milliarden EUR. Das Direktorium beschließt die Leitlinien zur Berechnung der künftigen Kreditzusage-Kapazität.
  • Kapital

    Das genehmigte Stammkapital2) beträgt 700 Milliarden EUR - aufgeteilt in sieben Millionen Anteile mit einem Nennwert von je 100 000 EUR.

    Der ESM ist berechtigt, weitere Mittel aufzunehmen, indem er Finanzinstrumente begibt oder mit ESM-Mitgliedern, privaten Finanzinstituten oder sonstigen Dritten finanzielle oder sonstige Vereinbarungen oder Übereinkünfte schließt..

    Der ESM ist befugt, an den Kapitalmärkten, bei Banken, Finanzinstituten oder sonstigen Personen und Institutionen Kapital aufzunehmen.2A)

    Der ESM darf einen Teil seiner Erträge zur Deckung seiner Betriebs- und Verwaltungskosten einsetzen. Konkret soll der ESM nicht nur für seine Kapitaldeckung Sorge tragen, sondern auch Gewinne erzielen.
    Das Direktorium kann auch die Zahlung einer Dividende beschließen.

    Verluste (infolge des Ausfalls gewährter Darlehen oder aus der sonstigen Geschäftstätigkeit) des ESM werden aus dem aus Reingewinnen gebildeten Reservefonds, und dem bereits dem eingezahlten Kapital beglichen – notfalls aber auch aus dem genehmigten, noch nicht eingezahlten Kapital.

    Nimmt ein ESM-Mitglied die aufgrund eines Kapitalabrufs erforderliche Einzahlung nicht vor, so ergeht an alle ESM-Mitglieder ein revidierter erhöhter Kapitalabruf.

    Damit besteht eine Nachschusspflicht übriger ESM-Mitglieder im Falle des Zahlungsausfalls eines oder mehrerer Mitglieder.

    Kontrolle und Aufsicht

  • Anders als jedes andere Kreditinstitut ist „Der ESM ist von jeglicher Lizensierungspflicht …. befreit.“
  • Das Direktorium billigt den Haushalt des ESM jährlich.
  • Eine Interne Revision wird eingerichtet.
  • Der Jahresabschluss des ESM wird von unabhängigen externen Abschlussprüfern geprüft, die mit Zustimmung des Gouverneursrats bestellt werden.
  • Es wird ein Prüfungsausschuss gebildet3). Dieser erstellt unabhängige Prüfberichte, prüft die Konten des ESM und überzeugt sich von der Ordnungsmäßigkeit seiner Gewinn- und Verlustrechnung und seiner Bilanz.
  • Sitz und Organe

  • Sitz und Hauptverwaltung hat der ESM in Luxemburg. Er kann außerdem ein Verbindungsbüro in Brüssel einrichten.

    Der ESM hat einen Gouverneursrat und ein Direktorium mit einem Geschäftsführenden Direktor sowie weitere für erforderlich erachtete, eigene Bedienstete.

    Jedes ESM-Mitglied ernennt einen Gouverneur und ein stellvertretendes Mitglied des Gouverneursrats. Die Ernennungen können jederzeit widerrufen werden. Anfänglich setzt sich der Gouverneursrat aus den 17 an der ESM-Gründung beteiligten Finanzminister zusammen.

    Befugnisse der Gouverneure

  • Dem Gouverneursrat obliegt die Genehmigung des Antrags neuer Mitglieder auf Beitritt zum ESM.
  • Er befindet darüber, ob die rechtliche Immunität der Mitglieder des Gouverneursrats/ Direktoriums und seiner Vorsitzenden des aufgehoben wird.
    Zum Umfang der juristischen Immunität siehe unter ‘Rechtlicher Status’.
  • Er ernennt je Mitglied zwei Direktoren aus dem Bereich der Wirtschaft und der Finanzen sowie gemeinsam einen Geschäftsführenden Direktor für 5 Jahre.
  • Das Direktorium legt u.a. die Beschäftigungsbedingungen für den Geschäftsführenden Direktor und die anderen Bediensteten des ESM fest.
  • Kapitalbildung und Re-kapitalisierung
  • Die ESM-Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und uneingeschränkt, ihren Beitrag zum genehmigten Stammkapital gemäß ihrem Beitragsschlüssel zu leisten.

  • Kapitalhaftung der Staaten: Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt. Kein ESM-Mitglied haftet aufgrund seiner Mitgliedschaft für die Verpflichtungen des ESM.

    Der Geschäftsführende Direktor ruft genehmigtes, noch nicht eingezahltes Kapital rechtzeitig ab, falls dies notwendig ist, damit der ESM mit seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht in Verzug gerät.

    Die ESM-Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und uneingeschränkt, das Kapital, das der Geschäftsführende Direktor von ihnen abruft, innerhalb von sieben Tagen …einzuzahlen. Hier geht es also um genehmigtes Kapital, aber laut Art. 10 sind auch Veränderungen des genehmigten Stammkapitals möglich:

  • Der Gouverneursrat überprüft ob das genehmigte Stammkapital des ESM zur Abdeckung dessen Verbindlichkeiten und Durchführung seiner Aufgaben ausreicht.
    Er kann beschließen, das genehmigte Stammkapital zu verändern.
    Dieser Beschluss tritt in Kraft, nachdem die ESM-Mitgliedstaaten […] den Abschluss ihrer jeweiligen nationalen Verfahren
    notifiziert haben.2B)
  • Nimmt ein ESM-Mitglied die aufgrund eines Kapitalabrufs erforderliche Einzahlung nicht vor, so ergeht an alle ESM-Mitglieder ein revidierter erhöhter Kapitalabruf, um sicherzustellen, dass der ESM die Kapitaleinzahlung in voller Höhe erhält.2C)

    Durch die Aufnahme eines neuen ESM-Mitglied wird das genehmigte Stammkapital des ESM automatisch erhöht – es ist also nicht so, dass allein die bestehende Last neu verteilt wird.

    Für die Höhe der Beitragsleistungen der Mitgliedsstaaten (gleich der Höhe v. erworbenen ESM-Anteilen) existiert ein am Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP) der ESM-Mitglieder bemessenen Beitragsschlüssel.

  • Rechtlicher Status
  • Der ESM besitzt volle, eigenständige Rechtspersönlichkeit sowie die uneingeschränkte Rechts- und Geschäftsfähigkeit. So darf er bewegliches und unbewegliches Vermögen zu erwerben und zu veräußern, Verträge abschließen usw.
    Er darf mit jeder internationalen Organisation oder Einrichtung zusammen arbeiten und kann Partei in Gerichtsverfahren sein.

  • Der ESM genießt Immunität vor gerichtlichen Verfahren jeder Art, kann also rechtlich nicht belangt werden - es sei denn, der ESM verzichtet im Einzelfall ausdrücklich auf seine Immunität.

    Einzige Ausnahme bzw. Besonderheit: Ficht ein ESM-Mitglied in einem Streit mit dem ESM die Entscheidung des Gouverneursrates an, so wird zur Beilegung der Streitigkeit der Gerichtshof der EU angerufen. Dessen Urteil ist für beide Parteien verbindlich.

  • Immunität gilt auch für ESM- Eigentum und -vermögenswerte; sie besteht vor Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Form des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen.
  • Die Geschäftsräume, Archive und sämtliche Unterlagen, die sich im Eigentum oder im Besitz des ESM befinden, sind unverletzlich. Das gesamte Eigentum, die gesamte Mittelausstattung und alle Vermögenswerte des ESM sind von Beschränkungen, Verwaltungsvorschriften, Kontrollen und Moratorien jeder Art befreit.
  • Der ESM ist von jeglicher Zulassungs- oder Lizenzierungspflicht […] befreit.
  • Der ESM selbst ist von allen direkten Steurern und Zöllen befreit. Gehälter und sonstige Bezüge der ESM-Bediensteten des ESM unterliegen nur einer ‘internen Steuer’ zugunsten des ESM. Von der nationalen Einkommensteuer aber sind sie befreit.--
  •    

     

  • Eine Verlautbarung der FDP-Fraktion (‘6 Fakten zum ESM’) bezieht sich auf die Aufregung und Kritik zu Steuerbefreiung der Bediensteten und Immunitäten:
  • Die Regelung zu Immunität und seien durchaus üblich für internationale Organisation – vergleichbar mit Regelungen u.a. für den IWF, die Weltbank sowie regionale Entwicklungsbanken. Diese Immunitäten entsprächen denen von Diplomaten. Zudem könne die Immunität der Amtsträger und Bediensteten bei Bedarf aufgehoben werden.

    Durch Steuerbefreiung der Bediensteten und Immunitäten solle die Unabhängigkeit und die Funktionsfähigkeit der Organisation gewährleistet werden. Es solle z.B. verhindert werden, dass ein Staat, der mit einer ESM-Entscheidung nicht einverstanden ist, diese durch Klagen oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren boykottiert.
     

    Lassen sich die Kosten und Risiken beziffern?

    Die Berechenbarkeit von Politik und den Märkten hat letzthin etwas nachgelassen… Ausgehend von den bekannten Fakten und bestimmten Grundannahmen sind vielleicht Szenarien vorstellbar – doch die Entwicklung in den kommenden 3-6 Monaten hängt von zu vielen Unbekannten ab.

    Gegenwärtig haftet Deutschland für 27 Prozent der ESM-Verbindlichkeiten, –Ausgaben  und später auch Spekulationsrisiken. Bisher vier Euro-Staaten nähern sich einer Beantragung von ESM-Mitteln an und werden zusammen zwischen 300 und 500 Milliarden Euro benötigen. Doch es macht sich nicht nicht gut, den Eindruck zu erwecken, Deutschland würde die Lasten aus den diversen Instrumenten zur Stabilisierung von Euro und Euroländern alleine tragen.

    Zahlenspielereien: Das genehmigte Kapital des ESM wird anfänglich 700-Milliarden Euro betragen, ab 2013 kommen noch die 440 Mrd. Euro der EFSF hinzu. 80 Milliarden sind sofort einzuzahlen, sobald der ESM startet (s.o.) – Deutschland ist wiederum mit 27% dabei.

    Es ist müßig und sinnfrei, die Haftungsrisiken der Transfer- und Stabilisierungselemente isoliert zu betrachten und von ”nur 190 Milliarden” als dem deutschen Risiko zu sprechen, das ist in meinen Augen verharmlosende Augenwischerei:
    Bezieht man den EFSF und die Target2-Außenstände ein, dann haftet Deutschland für gegenwärtig 1 Billion Euro an ‘Fremdschulden’, es könnte aber auch mehr werden.

    Doch ist es durchaus denkbar, das die realen Gefahren aus einem Zusammenbruch des Euro weit schwerer wiegen als die absehbaren und die ggf. eintretenden Verpflichtungen für europäische Steuerzahler.

    Eben dies macht eine Abwägung von Pro und Contra ungemein schwer.

    Diskussionsbeiträge im Parlament (29.6.2012)

    Die Risiken und Implikation der ESM-Einrichtung wurde vor der Abstimmung im Bundestag von ESM-Kritikern unter den Abgeordneten thematisiert.

     

    To be continued

    Anmerkungen:

    0) Unter anderem soll mit dieser Vereinbarung sichergestellt werden, dass das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit der Unterzeichnerstaaten 3 % ihres Bruttoinlandsprodukts nicht überschreitet und dass der öffentliche Schuldenstand 60 % ihres Bruttoinlandsprodukts nicht überschreitet.
    Fragt sich, wie das zu schaffen sein soll, solange die Raten für die ESM-Einlagen nicht vollständig beglichen sind….

    1) Diese Auflagen werden durch Mandatierung der EU-Kommission im Benehmen mit der EZB ausgehandelt. Sie können von einem makroökonomischen Anpassungsprogramm bis zur kontinuierlichen Erfüllung zuvor festgelegter Anspruchsvoraussetzungen reichen.

    2) Das genehmigte Stammkapital wird in eingezahlte Anteile und abrufbare Anteile unterteilt.
    Der anfängliche Gesamtnennwert der eingezahlten Anteile beläuft sich auf 80 Milliarden EUR. Die Anteile des genehmigten Stammkapitals am anfänglich gezeichneten Stammkapital werden zum Nennwert ausgegeben. Dessen Erhöhung auf bis zu 700 Milliarden € ist möglich und wahrscheinlich. Der deutsche Anteil liegt bei 27 %, bezogen auf das aktuell genehmigte Kapital beträgt die maximale Haftung der Deutschen 190.024.800.000 Euro, gefolgt von Frankreich mit einer maximalen Haftung von 142 Milliarden.

    2A) Mit anderen Worten: die ‘ESM-Bank’ darf unbeschränkt Geschäfte jeder Art mit jedermann abschließen, auch typische Bankgeschäfte, die ansonsten einer besonderen . Es bleibt also nicht bei dem Stammkapital aus staatlich eingezahlten Geldern??
    Ist es nicht in hohem Maße bedenklich, wenn eine Riesenbank auf dem Kapitalmarkt agieren und mit den vergleichsweise winzigen Großbanken konkurrieren darf, wie sie mag?

    2B) Was genau bedeutet dieser wichtige Passus? ESM-Kritiker wenden ein, dass im worst case Gouverneursrat/das Direktorium “unbegrenzt hohe Kreditsummen” bewilligen und so die entsprechende Kapitalerhöhung erzwingen könne. Dann sind 700 Milliarden also erst der Anfang?

    2C) Somit müsste auch Deutschland über seinen Anteil hinaus in den Fonds einzahlen, wenn ein anderes Mitglied seiner Einzahlungspflicht nicht nachkommt. Dies sei vorhersehbar, weil Spanien und Portugal zu effektiven Einzahlungen gar nicht in der Lage seien, warnt Prof. Dr. Stefan Homburg von der Leibniz Universität Hannover; sein Fachgebiet sind die Öffentlichen Finanzen.

    3) ”Der Prüfungsausschuss setzt sich aus fünf Mitgliedern zusammen, die vom Gouverneursrat aufgrund ihres Sachverstands im Bereich der Rechnungsprüfung und der Finanzen ernannt werden, und weist zwei – auf Rotationsbasis einander abwechselnde - Mitglieder der obersten Rechnungskontrollbehörden der ESM-Mitglieder und ein Mitglied vom Europäischen Rechnungshof auf.”

    4) Die Einzahlung anfänglich gezeichneten Betrags der eingezahlten Anteile erfolgt in fünf jährlichen Raten von jeweils 20 % des Gesamtbetrags.