Sonntag, 27. Januar 2013

Die Übung mit dem Anderen

Die Lebensweisheiten, die Paulo Coelho in seinem Buch ‘Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte’ durch Symbole, Erzählungen und Gleichnisse unaufdringlich vermittelt, reichen so tief, dass mir der rote Faden der ‘eigentlichen Handlung’ oft genug abhanden kommt.

Wie bereichernd es doch sein kann, sich auf das Ungewisse einzulassen und Risiken eingehen, anstatt immer auf Sicherheit zu spielen: “Wir können das Wunder des Lebens nur richtig verstehen, wenn wir zulassen, daß das Unerwartete geschieht“.

Wenn der Schrifftsteller Recht hat, erhalten wir jeden Tag einen Augenblick geschenkt, in dem es möglich ist, alles das zu ändern, was uns unglücklich macht. "Tag für Tag übergehen wir diesen Augenblick geflissentlich, als wäre das Heute wie gestern und das Morgen auch nicht anders. Aber derjenige, der seinen Tag bewußt lebt, nimmt den magischen Augenblick wahr.

Profaner ausgedrückt, haben wir jeden Tag die Gelegenheit, unser gesamtes Dasein neu zu gestalten und auf das auszurichten, was wir als wesentlich erachten. Dass materieller Wohlstand und Reichtum nicht alles sind, ‘weiß’ jeder. Doch lassen sich viele Aspekte der ‘Kunst zu leben’ heute kaum mehr erfassen, weil wir solche Ratschläge zu oft gehört haben – in immer gleichen Worten. 

Erzählungen wie ‘Die Übung mit dem Anderen’ dringen da schon eher zu uns durch:
Ein Mann trifft einen alten Freund, der erfolglos versucht hatte, es im Leben zu etwas zu bringen. ‘Ich werde ihm ein bißchen Geld geben’, denkt er. Doch er erfährt noch in derselben Nacht, daß sein alter Freund reich war und beschlossen hatte, alle Schulden zurück zu bezahlen, die er in den Jahren gemacht hatte.
Die beiden gehen in eine Bar, die sie früher immer gemeinsam besucht hatten, und er gibt eine Runde aus. Als er gefragt wird, wie er solchen Erfolg haben konnte, antwortet er, daß er bis vor einigen Tagen der Andere gewesen sei. 
“Wer ist der Andere?” fragen sie ihn.
“Der Andere ist der, den sie mich zu sein gelehrt haben, der ich aber nicht bin. Der Andere glaubt, daß der Mensch sein ganzes Leben lang nur daran denken muß, wie er so viel Geld zusammenbekommt, daß er nicht Hungers stirbt, wenn er alt ist. 
Er denkt so viel und macht so viele Pläne, daß er erst, als seine Tage auf Erden schon gezählt sind, entdeckt, daß er lebt. Doch da ist es schon zu spät.” 
“Das bist du, nicht wahr?” 
“Ich bin wie jeder andere, wenn ich auf mein Herz höre. Ein Mensch, der staunend die Mysterien des Lebens betrachtet, ist offen für die Wunder; das, was er tut, löst Freude und Begeisterung in ihm aus. Nur der Andere läßt ihn aus Angst, enttäuscht zu werden, nicht handeln.” 
“Aber es gibt doch das Leiden“, sagen die Leute in der Bar. 
“Es gibt Niederlagen. Niemand ist gegen sie gefeit. Deshalb ist es besser, im Kampf um seine Träume ein paar Schlachten zu verlieren, als besiegt zu werden, ohne zu wissen, wofür man kämpft.” 
“Ist das alles?” fragen die Leute in der Bar. 
“Ja. Als ich das entdeckt habe, bin ich aufgewacht und habe beschlossen, der zu sein, der ich in Wahrheit immer sein wollte. Der Andere blieb dort in meinem Zimmer und sah mich an, doch ich habe ihn nie wieder hereingelassen, obwohl er immer wieder versucht hat, mich zu erschrecken, mich auf das Risiko aufmerksam zu machen, das ich einging, wenn ich nicht mehr an die Zukunft dachte. 
In dem Augenblick, als ich den Anderen aus meinem Leben vertrieben habe, hat die Kraft Gottes begonnen, ihre Wunder zu tun.”
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aus: P. Coelho – Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte

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